In der rechtswissenschaftlichen Debatte haben Juristen, insbesondere aus der Perspektive des Völkerrechts, die Europäische Union (EU) oft an den traditionellen Kriterien eines Staates gemessen: Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk. Diese Elemente formen die Grundpfeiler der staatlichen Souveränität und Identität. Doch die EU tanzt aus der Reihe traditioneller Staatsdefinitionen; sie gleicht mehr einem Mosaik denn einem monolithischen Block. Es ist eine akademische Debatte, die seit Jahren geführt wird, und doch kommt man nicht umhin festzustellen, dass die europäische Integration eine eigene Kategorie herausfordert – zwischen staatlicher Einheit und internationaler Organisation.

Die EU wird vom Bundesverfassungsgericht daher treffend als „Staatenverbund“ beschrieben. Dieser Begriff umreißt die EU als eine Entität, die zwar keine staatliche Einheit im klassischen Sinn darstellt, aber deutlich mehr ist als eine bloße internationale Organisation. Sie ist ein Gebilde sui generis, das sich durch eigene Rechtssetzung, Grenzöffnungen und eine Verflechtung der Mitgliedstaaten auszeichnet. Trotz immer wieder auftauchender Vergleiche mit früheren Imperien und der absichtlichen Erzeugung von historischem Bewusstsein durch EU-Akteure, ist die EU letztlich ein Hybrid, dessen Natur sich stetig weiterentwickelt und damit das Verständnis von Staatlichkeit herausfordert.

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt

Ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu einer noch engeren europäischen Integration ist insbesondere der Begriff des „Staatsvolkes“. Ein Staatsvolk formt sich durch ein gemeinsames Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, eine Schicksalsgemeinschaft, die durchaus auch eine sprachliche Dimension beinhaltet. Die Vielsprachigkeit Europas wirkt sich hier zweischneidig aus. Sie ist einerseits Ausdruck der reichen kulturellen Diversität, andererseits aber auch eine Barriere für die Entstehung einer breit gefühlten europäischen Identität und Öffentlichkeit. Ohne eine gemeinsame Sprache scheint der Weg zu einer tief verwurzelten, gemeinsamen Basis mühsam.

Im Europäischen Parlament manifestiert sich diese Spaltung etwa in der Verteilung der Sitze nach Mitgliedstaaten und in der Wahl der EU-Abgeordneten durch nationale Wahlen. Dieses System bringt die nationale Identität in den europäischen Diskurs ein, erweckt jedoch auch den Eindruck einer Fragmentierung. Reformansätze wie transnationale Listen, die seit Jahren diskutiert werden, könnten hier einen Ausweg bieten und die Identifikation mit einer europäischen Gemeinschaft fördern, die über die nationalen Grenzen hinausgeht. Doch bislang scheint es in diesem Bereich keine wirklichen Fortschritte zu geben.

Hilfe durch KI und virtuelle Welten?

Mit den jüngsten Erfolgen in der digitalen Technologie, Stichwort generative Künstliche Intelligenz (KI), bietet sich nun ein anderer Ausweg aus der babylonischen Sprachverwirrung. Dank neuer KI-Schreibassistenten, die mit Algorithmen des sogenannten Natural Language Processing (NLP) arbeiten, können Sprachbarrieren schneller überwunden werden. Durch die Bereitstellung präziser Übersetzungen helfen KI-Technologien wie DeepL und ChatGPT Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die Bräuche, Traditionen und Perspektiven des jeweils anderen zu verstehen. Während nuancenreiche Ausdrucksweisen wie Humor und politische Feinheiten der automatisierten Übersetzung noch Widerstand bieten, eröffnen Entwicklungen wie Video-KI-Apps ganz neue Perspektiven. Mit solchen Tools kann man lippensynchron in diversen Sprachen sprechen und Videos erzeugen, bei denen nicht nur die Sprache, sondern auch die Lippenbewegungen des Sprechers an die gesprochenen Laute angepasst werden. Der globale Markt für solche zunehmend KI-betriebenen Sprachdienstleistungen wird bis 2027 voraussichtlich 72,2 Milliarden US-Dollar erreichen.

Diese technologische Entwicklung könnte gerade zur rechten Zeit kommen, um die Zukunft der EU in einem neuen Licht zu sehen und innovativ zu konzeptualisieren.

Die Bedeutung von Übersetzer-Apps und ähnlichen technologischen Hilfsmitteln ist nicht zu unterschätzen, vor allem im Hinblick auf aufstrebende globale Infrastrukturen wie das immersive Metaverse, wo sie eine zentrale Rolle spielen könnten. Durch die Bereitstellung sofortiger Übersetzungsmöglichkeiten fördern sie einen grenzüberschreitenden Dialog und bieten somit das Potential, die Vielfalt Europas in einen gemeinsamen Erfahrungsraum zu transformieren. Einer Eurobarometer-Umfrage zufolge glauben fast neun von zehn EU-Bürgern, dass die Fähigkeit, Fremdsprachen zu sprechen, sehr nützlich ist, und 98 % sagen, dass das Beherrschen von Sprachen gut für die Zukunft ihrer Kinder ist. Was bisher nur einer Elite zugänglich war – die Simultanübersetzung in Echtzeit im Europäischen Parlament – könnte bald zum Alltag jedes europäischen Bürgers gehören, ob in virtuellen Welten oder durch portable Technologie. Das hätte auch positive Auswirkungen auf den Binnenmarkt, denn Umfragen zeigen, dass Verbraucher lieber Produkte in ihrer Muttersprache kaufen.

Diese technologische Entwicklung könnte gerade zur rechten Zeit kommen, um die Zukunft der EU in einem neuen Licht zu sehen und innovativ zu konzeptualisieren. Während einer Epochenwende, in der aufgrund geopolitischer Spannungen intensiv über Erweiterungen und Reformen nachgedacht werden muss, könnte eine exponentielle Digitalisierung als Katalysator für mehr Integration wirken. Eine kürzlich durchgeführte systematische Untersuchung der Anwendung neuer KI-Technologien im Fremdsprachen-Unterricht hat gezeigt, dass die Integration solcher Tools zu bemerkenswerten Fortschritten bei verschiedenen Aspekten des Spracherwerbs führt und sich positiv auf die Motivation auswirkt. Übersetzer-Apps und ihre Rolle im aufkommenden Metaverse sind dabei nur das jüngste Beispiel eines grundlegenden Digitalisierungsimpulses, der dabei hilft, die sprachlichen und kulturellen Grenzen Europas zunehmend zu überbrücken – man denke etwa an die positiven Folgen der europaweiten Abschaffung der Roaminggebühren.

Technologie ist kein Allheilmittel

Indes kann die Technologie auch vorhandene Differenzen intensivieren und somit bestehende Spannungen sichtbarer machen. Dies zeigt sich aktuell zum Beispiel in den divergierenden Social Media Diskussionen zum Israel-Hamas-Konflikt, die innerhalb Europas geführt werden. Hier reflektiert die Technologie nicht nur sprachliche Unterschiede, sondern auch stark unterschiedliche Meinungen, Wertvorstellungen und politische Forderungen. Die Art, wie brisante Themen wie etwa Migration oder kriegerische Auseinandersetzungen in verschiedenen europäischen Mitgliedsstaaten mittlerweile online diskutiert werden, offenbart eine Vielschichtigkeit, die durch die Technologie zwar erlebbar gemacht, aber nicht zwangsläufig vereinheitlicht wird. Zudem schaffen generative KI-Tools auch die Möglichkeiten, schnell und kostenfrei Deepfakes zu erstellen. Diese Diskrepanzen zeigen, dass es noch dringend Forschung und eine objektivere Auseinandersetzung darüber braucht, wie digitale Werkzeuge das Verständnis für komplexe soziokulturelle Unterschiede fördern können. NLP-Technologien werden bereits von Psychologen eingesetzt, um Therapiesitzungen zu überwachen und evidenzbasierte Erkenntnisse zu gewinnen; ein ähnlicher Ansatz könnte auch zur gesellschaftsweiten Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung beitragen.

Ungeachtet der vielen Vorteile, die digitale Technologien mit sich bringen, ist deren Fähigkeit, Verständigung zu erleichtern, somit nicht grenzenlos. Selbst die beste Simultanübersetzung kann die feinen Nuancen von Begriffen und Konzepten, die aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten stammen, nicht immer einfangen. Die Geschichte und die kulturellen Besonderheiten jedes einzelnen Landes in Europa prägen die Wahrnehmung und Interpretation von Informationen, Normen und Gesetzen – ein Umstand, der sich seit Beginn der europäischen Vertragsverhandlungen beobachten lässt.

Auf der Suche nach einem „common ground of Europe“

Ein gemeinsamer Diskurs, geführt auf der Basis einer geteilten Sprache – und sei es nur über eine KI-Anwendung – ermöglicht es jedoch immerhin, solche Unterschiede potentiell zu erkennen, differenziert zu diskutieren und auszuhandeln. Nur durch fortwährenden Dialog und den Willen zur Verständigung können die Mitgliedsstaaten der EU eine Zukunft gestalten, die sowohl ihre individuellen Identitäten respektiert als auch ein kollektives europäisches Bewusstsein schafft. Dafür braucht es zuallererst eine gemeinsame Sprache, die zunehmend digital vermittelt und virtuell erlebt werden wird.

Notiz: Eine gekürzte Fassung dieses Essays ist zuerst als „Standpunkt“ im Europe.Table Newsletter erschienen.


Dr. Patrick Stockebrandt is Head of the Consumer & Health department of the Centres for European Policy Network (cep) in Freiburg and Associated Faculty at the School of Economic Disciplines of the University of Siegen. He has studied German and European Economic Law in Germany and Lithuania before gaining his Phd in law (Dr. iur) at the University of Siegen.


Copyright Header Picture: Andrey Suslov