Kaum jemand in Deutschland kennt die innere und äußere Bedrohungslage so gut wie er: Als Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag hat er Zugriff auf sämtliche Informationen
deutscher Geheimdienste. Grünen-Vizefraktionschef Konstantin von Notz (Grüne) warnt im Exklusivinterview mit cep-Kommunikationschef Jörg Köpke auch mit Blick auf den Rechtsruck bei der Europawahl vor
einem drohenden faschistischen Jahrzehnt.

 

Herr von Notz, wie bewerten Sie das Ergebnis der Europawahl?

Die Ergebnisse in Deutschland für AfD und BSW sind irritierend und auch durchaus beunruhigend. Insgesamt ist die Tendenz in Europa hin zur extrem Rechten, die in immer mehr Ländern an der Schwelle zur Machtübernahme stehen, sehr besorgniserregend. Diese Parteien machen überhaupt keinen Hehl daraus, mit dem freiheitlichen und liberalen Rechtsstaat auf dem Kriegsfuß zu stehen und diesen letztlich überwinden zu wollen. Bei ihren Aktivitäten vernetzen sie sich und kriegen massive logistische und finanzielle Unterstützung aus verschiedenen autoritären Staaten. All dies müssen wir noch klarer benennen und uns als Demokratien sehr entschlossen gegen in den vergangenen Jahren massiv gestiegene Bedrohungslagen aufstellen.

 

Hat es tatsächlich einen Rechtsruck gegeben? Die Zahl rechtsextremer Mandate ist insgesamt nicht signifikant gestiegen.

Diese Tendenz gibt es seit vielen Jahren. Und allein auf die Anzahl von Mandaten zu schauen, greift meines Erachtens zu kurz. Wenn sie beispielsweise in die USA gucken, dann ist die Partei von Donald Trump immer noch die republikanische Partei, aber die Leute, die dort Politik machen und Verantwortung tragen, haben sich zu einem relevanten Teil stark radikalisiert. Gleiches gilt für die Anhängerschaft. Wichtig ist sich klar zu machen, dass es hier um kein spezifisch deutsches oder europäisches, sondern es sich vielmehr um ein weltweit zu beobachtendes Phänomen handelt.

 

Bleiben wir zunächst noch in Europa. Wie beurteilen Sie die Entwicklung in den drei großen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Italien?

Die 16 % für die AfD in Deutschland, insbesondere das Abschneiden der Parteien in den ostdeutschen Bundesländern, ist ein echtes Alarmsignal. Doch genauso muss man festhalten, dass im Vergleich zu anderen Ländern, darunter auch Italien und Frankreich, die überragende Mehrheit der Menschen in Deutschland bisher klar demokratische und rechtsstaatliche Parteien wählt. Das gibt Hoffnung. Genauso ist es ein Stück weit beruhigend, das ist durchaus auch kein neues Phänomen, dass sich rechtsextreme Parteien, immer dann, wenn es darum geht, tatsächlich gemeinsam politische Verantwortung zu übernehmen, plötzlich doch nicht mehr so grün sind. Der Ausschluss der AfD aus der gemeinsamen Fraktion im Europäischen Parlament hat das gerade noch einmal gezeigt. Doch gerade mit Blick auf die Umfrageergebnisse der AfD in den ostdeutschen Bundesländern gilt es, den Ernst der Lage zu begreifen, als Demokratinnen und Demokraten zusammenzustehen und gemeinsam klarzumachen, was es bedeuten würde, wenn Rechtsextreme tatsächlich in Verantwortung kommen.

 

Welche Gründe gibt es dort für den Anstieg rechter Wählerstimmen?

Dafür gibt es sicher keine monokausalen Erklärungen. Einen relevanten Anteil scheint mir die Art und Weise zu sein, wie wir in Zeiten von Internet und Social Media Politik diskutieren, Fakten nicht mehr wirklich von Verrücktheiten unterscheiden und den Kompromiss als Wesenskern unseres demokratischen Systems insgesamt zu wenig wertschätzen. Politik ist und bleibt ein hochkomplexes Geschäft. Dass den Menschen zu erklären und ihnen deutlich zu machen, dass man bei vermeintlich extrem einfachen politischen Antworten eher skeptisch sein sollte, ist dieser Tage nötiger denn je.

 

Droht Europa ein faschistisches Jahrzehnt?

Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre, die Diskussionen in Mitgliedsstaaten wie Frankreich nach den Europawahlen und mittlerweile völlig unverhohlenen Absichtserklärungen der extremen Rechten, ist die Gefahr zweifellos nicht ganz von der Hand zu weisen. Gleichzeitig glaube ich an die Widerstandsfähigkeit und die Wehrhaftigkeit von liberalen Demokratien. Es liegt nun in unserer Verantwortung zu beweisen, dass wir als Europäerinnen und Europäer aus der Geschichte unseres Kontinents, die jahrhundertlang von Kriegen geprägt war, gelernt haben.

 

Was muss die EU unternehmen, um sich robust gegen Feinde einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzustellen?

Die Europäische Union und die Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten müssen zunächst verstehen, welch Stunde geschlagen hat. Die EU als politisches system sui generis, als weltweit einzigartiger Zusammenschluss von Rechtstaaten, steht, genauso wie ihre Mitgliedsstaaten, derzeit massiv unter Druck. Alle werden bedroht – von innen wie außen. Angesichts dieser, spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nochmals stark gestiegenen Bedrohungslagen, müssen EU und Mitgliedsstaaten sehr entschlossen gegen Desinformation, illegitime Einflussnahmen und weitreichende Spionage vorgehen. Sie müssen sich zunehmend auch in diesem Politikbereich, der bis heute maßgeblich im Verantwortungsbereich der Mitgliedsländer liegt, vernetzen, dringend notwendige Reformen durchführen, und gemeinsam alles daran setzen, die Resilienz unserer Demokratien angesichts massiv gestiegener Bedrohungen schnellstmöglich erhöhen.

 

Was hat die Politik falsch gemacht?

Sicherlich macht Politik auch immer wieder Sachen falsch. In Demokratien kann man sich mit gutem Recht darüber beschweren und dagegen auflehnen. Und dann kann sich Politik korrigieren. Das Interessante ist, das in allen Demokratien westlichen Typs, ob dort nun Merkel, die CDU, die CSU, die Grünen, die Sozialdemokratie oder wer auch immer regiert hat, sich fast überall extrem rechte Parteien sich in den vergangenen Jahren massiv profilieren konnten. Das zeigt, dass es grundsätzliche systemische Herausforderungen gibt, die unabhängig von der einzelnen Partei alle gleichermaßen herausfordern. Gleichzeitig gibt es Diktaturen wie Russland und China, die Spaltung und Zersetzung in den Demokratien westlichen Typ tagtäglich gezielt befeuern. Das Drehbuch, nach dem die extreme Rechte vorgeht, ist weltweit sehr ähnlich. Immer wieder lernt man voneinander. Angesichts der zunehmenden Vernetzung von Demokratieverächtern unterschiedlicher Colour muss sich ein entschlossenes Bündnis von Demokratinnen und Demokraten formieren.

 

Welche Rolle kommt den Medien zu? Welche den sozialen Netzwerken?

Die klassischen Medien haben, auch als Ergebnis der gezielten Verächtlichmachung durch die extreme Rechte, derzeit zweifellos mit einem extremen Vertrauensverlust zu kämpfen. Auch dieses Phänomen, Angriffe auch und vor allem auf unabhängige Medien, kann man weltweit beobachten. Mit dem Öffentlich-Rechtlichen haben wir eigentlich ein echtes Pfund auf der Kante, das wahnsinnig wertvoll im Kampf gegen Desinformation sein könnte. Aber wir erleben die Zersplitterung von Öffentlichkeiten und das Phänomen von Kommunikation, die sich mehr und mehr in Filterbubbles abspielt. Die sozialen Netzwerke, aber auch Messenger-Dienste wie Telegram, haben als GateKeeper eine extrem große gesellschaftliche Verantwortung. Statt ihr gerecht zu werden und ihren Teil gegen die gezielte Verbreitung von Desinformation zu leisten, wehren sie sich weiterhin mit Händen und Füßen gegen jedwede rechtsstaatliche Regulierung. Ihre Klick- und Verwertungslogiken sind echte Brandbeschleuniger bei der Verbreitung extremer Positionen.

 

Wir gefährdet ist die Demokratie in Europa?

Derzeit stellt sich weltweit die Grundfrage nach der Zukunft von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Ich glaube, dass wir diese Herausforderung annehmen müssen. Die Demokratien westlichen Typs sind heute längst nicht mehr so gefestigt, wie sie es mal waren. Sie stehen weltweit unter massivem Druck. Hierauf müssen wir als wehrhafte Demokratien reagieren – nationalstaatlich, europäisch, aber auch im Zusammenspiel mit unseren transatlantischen Partnern. Gemeinsam müssen wir den Demokratieverächtern dieser Welt die Stirn bieten, uns sehr viel stärker als bisher austauschen, beispielsweise, wenn es um die rechtsstaatliche Bekämpfung von Desinformation und anderen Einflussnahmeoperationen geht, die das Ziel verfolgen, unsere Demokratien zu schwächen und gesellschaftliche Konflikte gezielt zu befeuern.

 

Wie sehen Sie die Entwicklung in Europa im Vergleich zu der in den USA?

Auch durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk stehen wir – trotz krasser Veränderungen durch das Internet – im Vergleich noch relativ solide dar, während in den USA der demokratische Diskurs durch Talkradios, das Internet und eine nochmals sehr viel größere finanzielle Einflussnahme auf demokratische Willensbildungsprozesse insgesamt extrem toxisch geworden ist. Bewegt man sich auf X, vormals Twitter, kriegt man einen guten Eindruck, wohin die Reise auch bei uns gehen könnte, wenn wir nicht rechtsstaatlich gegensteuern. Die Zeit des Erkenntnisgewinns muss ein für allemal vorbei sein. Es ist Zeit, unsere Demokratien sehr entschlossen aufzustellen. Die viel beschworene Zeitenwende muss tatsächlich umgesetzt werden – auch, wenn es um den Schutz unserer digitalen Infrastrukturen und anhaltenden hybriden Angriffen und Einflussnahmeoperationen geht.

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Konstantin von Notz ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages als Abgeordneter von Bündis 90/Die Grünen. Seitdem ist er Mitglied des Innenausschusses und seit 2013 stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Durch seine Mitarbeit in zahlreichen Gremien konnte sich von Notz als ausgewiesener Kenner der Innen- und Sicherheitspolitik profilieren.

Von 2017 bis 2021 war er stellvertretendes Mitglied im Untersuchungsausschuss „Berliner Breitscheidplatz“. Seit diesem Jahr ist er Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Von Notz studierte Jura in Heidelberg und promovierte im Evangelischen Kirchenrecht.


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