Jahrzehntelang hat Europa es sich bequem gemacht. Das Ende der Geschichte, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks von Francis Fukuyama proklamiert, war für Europa der Beginn einer scheinbaren Unverwundbarkeit. Es ging fortan vor allem darum, auf der Welle der Globalisierung mitzuschwimmen, opportunistisch Politik zu betreiben, Geschäfte zu machen, Märkte zu erschließen. Der Krieg in Jugoslawien, die Anschläge von 9/11 oder die Annexion der Krim – Europa fühlte sich nie zuständig, die Konflikte schienen weit weg. Nun ist der Krieg zurück in Europa mit der unmittelbaren Bedrohung einer Ausweitung auf weitere Länder. Die „Friedensdividende“, mit der sich doch so schön verdienen ließ, ist erschöpft. Jener Francis Fukuyama betont heute, dass der Untertitel seines damaligen Buches „The End of History“ lautete: „…and the last man“. Während der erste Teil eine Denkfigur Hegels ist, geht der zweite auf Nietzsche zurück. Ist Putin dieser „last man“, der die Welt brutal zurück in die Geschichte wirft, großrussische und panslawistische Geschichtsdeutungen bedient, den Sieg der Demokratie rückgängig machen will und gleichzeitig das Ende der Unschuld Europas einläutet, in der es sich so bequem lebte und verdiente? Putin wird am Ende scheitern und Russland einen hohen Preis zahlen. Aber dennoch werfen eine neue globale Blockbildung und ein neuer Kalter Krieg ihre Schatten schon länger voraus – in eine desillusionierte Gegenwart und in eine schwierige Zukunft.

Die Ordnungsfrage

Es wird auf absehbare Zeit nicht mehr so bequem werden, wie es in den vergangenen dreißig Jahren gewesen ist. Die gegenwärtige und noch viel mehr die zukünftige Bedrohungslage ist indes deutlich vielschichtiger und komplexer, als es im Angesicht des Krieges die politischen Forderungen nach militärischer Aufrüstung widerspiegeln. Die Häufung von Krisen ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck eines eklatanten Mangels an strategischem Handeln. Wer jetzt allein die Bundeswehr aufrüstet, verkennt, dass Klimarisiken – Wassermangel, Dürren, Überschwemmungen -, Cyberrisiken und globale Konflikte eine völlig andere Form der Politik erfordern. Wir haben immer nur symptomatisch und erschreckend oberflächliche, ja naive Politik gemacht. Damit Politik präventiv, kurativ und transformativ sein kann, brauchen wir ein tieferes Verständnis der Krisen unserer Zeit. Nur dadurch lässt sich ein strategischer und konzeptioneller Zugang zu ihrer Überwindung schaffen. Wer nicht versteht, was passiert, kann nicht verhindern, was droht. Machen wir uns nichts vor: Eine notwendige neue sicherheitspolitische Agenda wird tiefgreifende Ordnungsfragen stellen: Wie viel Verteidigung, auch eigene militärische Forschung und Entwicklung braucht Europa, wie viel Austausch von Daten und Technologien kann es mit China geben, und welche Formen des Katastrophenschutzes werden benötigt? Hierauf muss es politische Antworten geben.

Die Europa-Perspektive

Europa selbst muss dazu beitragen, die Welt wieder sicherer zu machen – im eigenen Interesse, denn kein Kontinent profitiert wirtschaftlich und politisch mehr von globaler Stabilität und Sicherheit, sei es im Verhältnis zu Asien oder Afrika. Und natürlich trägt Europa eine Mitverantwortung für das, was es in seiner geographischen Mitte und politischen Peripherie in diesen Tagen an Gewalt, Tod und Leid aus Angst vor nuklearer Eskalation zulässt und wohl zulassen muss. Dieser Krieg wird mit jedem Tag, den er andauert, grauenvoller, unbegreiflicher und tragischer. Die Welt blickt zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in den Abgrund. Europa kann nicht länger sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer sein. Deutlich mehr als zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung werden wir über ein Jahrzehnt lang in strategische Sicherheitsinfrastruktur und Versorgungskapazitäten investieren müssen, in die Prävention, Mitigation und Adaption von Krisen, darunter:

  • klimabedingte Gesundheits- und Versorgungsrisiken,
  • geopolitische Konflikte und militärische Auseinandersetzungen,
  • Daten- und Technologierisiken,
  • Grundversorgungs- und Lieferkettenrisiken (u.a. Energie, Nahrungsmittel, Medizinprodukte).

Globalisierung kann immer nur so frei und kooperativ sein, wie die Welt sicher und friedlich ist. Wenn das so ist, muss Europa seine strategische Autonomie stärken. Autonomie bedeutet dabei keineswegs Autarkie – im Gegenteil: diese wäre eher gefährlich, weil wechselseitige Abhängigkeit immer auch mäßigend und verständigend wirkt -, aber sehr wohl selbstbestimmte Handlungsfähigkeit. Nur so kann Europa letztlich eine Friedensmacht inmitten einer gravierenden geopolitischen Neuordnung werden.

Der Ordnungsruf geht an die europäische und deutsche Politik. Es reicht nicht mehr, ad hoc auf Pandemien mit Schulschließungen oder auf Kriege mit einer 100-Milliarden-Euro-Aufrüstung der Bundeswehr zu reagieren. Aktionismus und Betroffenheit sind nicht mehr genug, um einer Zukunft, die strukturell unsicherer und komplexer sein wird und uns insoweit anfälliger und verwundbarer gegenüber Krisen macht, politisch gerecht zu werden. Eine moderne sicherheitspolitische Agenda für das nächste Jahrzehnt muss die Antwort Europas auf die vielen offenen Fragen der Gegenwart sein.


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