Schon seit Elon Musks Übernahme von Twitter, heute bekannt als X, kursieren Gerüchte, wonach der US-Milliardär die Kurznachrichtenplattform aus der Europäischen Union (EU) abziehen möchte. Dafür gibt es zunächst einmal ganz pragmatische Gründe: Der kostenpflichtige Plan von X, „Twitter Blue“, mit dem Musk die nach seiner Übernahme dramatisch fallenden Werbeeinnahmen ausgleichen wollte, ist in Europa sichtlich weniger beliebt als in den USA. Europas damalige Wettbewerbschefin Margrethe Vestager nannte die Idee eines Abonnementmodells, um für Twitters begehrten blauen Haken zu bezahlen, bei dessen Einführung „völlig fehlerhaft“. Zudem haben Musks rechtsgerichtete online-Eskapaden in den letzten Monaten immer wieder zu dramatischen Abwanderungen europäischer Nutzerinnen geführt, zunächst zu Mastodon, aktuell zu Bluesky Social.

Nun kommt noch die Sorge Musks um den im August eingeführten Digital Services Act (DSA) der EU hinzu, der große Online-Plattformen wie X dazu verpflichtet, konsequent und schnell gegen Hassrede vorzugehen. EU-Kommissar Thierry Breton nahm die virale Verbreitung von Gewaltaufrufen und Falschinformationen nach dem Angriff der islamistischen Hamas auf Israel zum Anlass, Musk öffentlich einen kritischen Brief zuzustellen und eine DSA-Untersuchung einzuleiten. Allerdings zeigen sich in diesem jüngsten Konflikt, neben Musks eigenwilliger Sicht auf Redefreiheit, die Probleme, die sich aus einem Aufeinanderprallen idealistischer regulatorischer Pläne der EU für den Digitalbereich und den konkreten technische Hürden bei deren Umsetzung ergeben. Grundlegend ist festzuhalten, dass viele der Mitgliedstaaten noch überhaupt nicht auf die Durchsetzung des DSA vorbereitet sind, weil der sogenannte Digital Services Coordinator (DSC) erst bis zum 17. Februar 2024 benannt werden muss. Unter dem anwachsenden Druck hat die Kommission nun schnell eine Reihe von Empfehlungen für die Mitgliedstaaten erstellt, um deren Reaktion auf die Verbreitung illegaler Inhalte zu koordinieren.

Viel schwerwiegender ist allerdings die Tatsache, dass Breton mit seiner versuchten „Megaphone-Durchsetzung“ des DSA die Grenze zwischen illegalen und manipulierten Inhalten unzulässig verwischt. Wo hört anstößiges Manipulieren von Informationen auf und wo fangen illegale Nachrichten an? Dem DSA geht es vor allem darum, die Moderation von Inhalten besser verständlich zu machen und Nutzerinnen zu ermöglichen, Entscheidungen anzufechten. Die EU hat sich bewusst dafür entschieden, Plattformen wie X nicht zur Zensur rechtmäßiger, aber anstößiger Inhalte zu verpflichten. Zudem sollen Plattformen Ressourcen bereitstellen, um Risiken zu mindern, aber es wird nicht vorgeschrieben, welche konkreten Schritte sie dafür unternehmen müssen. Bei den meisten gefälschten Bildern, die die sozialen Medien seit dem Ausbruch des Terrors in Israel fluten, handelt es sich jedoch um echte Bilder mit gefälschten Bezeichnungen, etwa um frühere Gräueltaten aus Syrien oder um russische Phosphorbomben in der Ukraine, bei denen dann behauptet wurde, sie würden das Geschehen in Israel oder Gaza widerspiegeln. Das sind also keine KI-generierten Deep Fakes, vor denen im aktuellen politischen Diskurs zurecht gewarnt wird.

Indem Breton – angetrieben von seinem Ehrgeiz im Lichte der 2024 anstehenden Europawahl – die bloße Verfügbarkeit anstößiger oder manipulierter Inhalte moniert, ohne auf deren Reichweite oder Auswirkungen näher einzugehen oder die legalen und technischen Hürden bei ihrer Bekämpfung anzuerkennen, schadet er einer sorgfältigen, aber langfristig erfolgreicheren Implementierung des wichtigen DSA.


Anselm Küsters is Head of Department of Digitalisation/New Technologies at the Centre for European Policy (cep), in Berlin. As a postdoctoral researcher at the Humboldt University of Berlin and an associated researcher at Max Planck Institue for Legal History and Theory in Frankfurt am Main, he conducts research in the field of Digital Humanities.

Küsters holds a Master's degree in Economic History from the University of Oxford (M.Phil) and a PhD from Johann Wolfgang Goethe University in Frankfurt am Main.

 

 


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