Frau Kokott, frei nach Heinrich Heine: Denke ich an Europa in der Nacht …
… bin ich zwar noch nicht um den Schlaf gebracht. Aber die Situation ist nicht einfach. Europa ist inhomogener geworden. Es gibt mehr Staaten, mehr Rechtskulturen, mehr politische Systeme. Am Anfang der Erweiterung stand dies im Hintergrund. Aber kann man die gleiche Integrationstiefe mit immer mehr Staaten erreichen, zumal nicht alle Staaten über die gleiche demokratische Erfahrung verfügen? Daraus können sich Probleme ergeben.

Wie sehen die aus?
Man hat sich nie offen dazu bekannt, wohin der Zug gehen soll. Es gibt viele, die den europäischen Bundesstaat wollen. Aber es ist nicht einfach, diesen von oben zu bauen, während die Erweiterung voranschreitet. Außerdem müssten die Institutionen angepasst werden. Zurzeit sehen wir ein Mischgebilde aus Bundesstaat und Staatenbund. In einem Staatenbund werden Staaten unabhängig von ihrer Einwohnerzahl gleichbehandelt (völkerrechtlicher Grundsatz der Staatengleichheit). In einem Bundesstaat ist der Einfluss von Bürgerinnen und Bürgern größer. In der Europäischen Union haben die kleinen Staaten immer noch überproportional viel Einfluss, und das passt nicht zu einem Bundesstaat, in dem das Gewicht des einzelnen Bürgers wichtiger sein soll. Zudem muss das Konstrukt entscheidungsfähig bleiben und das ist es zurzeit nur bedingt.

Brauchen wir eine Änderung der EU-Verträge?
Um der EU mehr Kompetenzen zu übertragen und sie handlungsfähiger zu machen, müssten die Verträge angepasst werden.

Es gibt Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips. Solche Erscheinungen sind für die Verfasstheit der Union sehr, sehr schlecht. Diese Entwicklung ist nicht gut.

Keine leichte Aufgabe. Staaten wie Ungarn oder Polen werden nicht so leicht auf ihr Veto-Recht bei Einstimmigkeitsentscheidungen verzichten …

Es geht nicht nur um Polen und Ungarn. Ich bin mir nicht sicher, ob Frankreich und diverse andere Staaten beispielsweise akzeptieren würden, dass die Union entscheidet, wo ihre Soldaten eingesetzt werden. Auch bestehen beispielsweise unterschiedliche Ansätze des EuGH und des französischen Conseil d´État zum Verhältnis nationale Sicherheit und Datenschutz.

Polen und Ungarn verletzen seit Jahren die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien der EU. Wie wirkungsvoll schätzen Sie Artikel 7 des EU-Vertrages ein, der Abweichler eigentlich in den gemeinsamen Wertekanon zurückführen soll?
Artikel 7 EUV liegt die Vorstellung zugrunde, dass man derartige Konflikte politisch löst. Das geschieht aber nicht, weil es dazu einer breiten Mehrheit von Mitgliedstaaten bedarf. Artikel 7 EUV kommt daher gar nicht zur Anwendung. In diese Lücke stößt der EuGH. Er füllt das Vakuum aus und definiert sehr klar, wie der Rechtsstaat in den verschiedenen Staaten zu gestalten ist.

Ungarn gilt bereits nicht mehr als demokratischer Staat. Wie soll dessen Rückkehr in die Wertegemeinschaft gelingen?
Das ist schwierig. Niemand wird in Ungarn einmarschieren und die Regierung absetzen. Ungarn könnte allerdings mit sanftem Druck dazu bewegt werden, die Union zu verlassen, indem man andauernd Urteile gegen Ungarn fällt oder alle Mittelzuweisungen aus Brüssel kürzt oder streicht. Das könnte man auch mit Polen so machen. Aber will man dies wirklich? Die gerichtliche Zusammenarbeit mit beiden Ländern funktioniert in „technischen“ Gebieten wie dem Steuer- und Bankrecht gut. Ich denke nicht, dass jeder einzelne polnische oder ungarische Richter jetzt nur noch politische Urteile fällt.

Die Verfassungsgerichte in Polen und Ungarn stellen nationales Recht über europäisches Recht und damit über die Rechtsprechung des EuGH. Sind das Einzelfälle, die man ignorieren kann?
Um es klar zu sagen: Es gibt Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips. Solche Erscheinungen sind für die Verfasstheit der Union sehr, sehr schlecht. Diese Entwicklung ist nicht gut.

Das europäische Kartellsystem ist anders als das in den USA. Die EU-Kommission kann selbst Verbote aussprechen und Bußgelder verhängen, während die Federal Trade Commission dazu die Gerichte braucht. Das ist ein großer Unterschied.

Auch in anderen Rechtsfragen sieht sich der EuGH in der Defensive, wenn es etwa um das Einhegen US-amerikanischer Tech-Giganten geht. In Verfahren gegen Meta, Microsoft oder Amazon erlitt die Kommission zuletzt Schiffbruch. Oder wie sehen Sie das?

Das würde ich so nicht unterschreiben. Die Kommission hat wichtige Fälle gewonnen, zudem sind viele Fälle anhängig. Und wie die ausgehen, kann ich nicht vorhersagen. Am EuGH müssen wir zunächst einmal abwarten. Aber eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Das europäische Kartellsystem ist anders als das in den USA. Die EU-Kommission kann selbst Verbote aussprechen und Bußgelder verhängen, während die Federal Trade Commission dazu die Gerichte braucht. Das ist ein großer Unterschied. Wenn die Kommission ein Bußgeld verhängt, kann sie ihre Entscheidung erklären, so dass das Gericht die Ausgangslage besser versteht.

Gibt es tatsächlich die Chance, dass Europa Maßstäbe setzt?
Ja. Und das gilt nicht nur für das Kartellrecht, sondern auch für Verbraucherschutz, Datenschutz und viele andere Bereiche, in denen die europäische Gesetzgebung eine Vorreiterrolle einnimmt. Da internationale Unternehmen auch den europäischen Markt bedienen wollen, werden viele europäische Standards weltweit angewandt.

Wie schätzen Sie die Gefahren von Digitalisierung und KI auf demokratische Strukturen ein?
Eine zu große Konzentration wirtschaftlicher Macht und wirtschaftlichen Kapitals ist der Demokratie nicht zuträglich. Eine gewisse Regulierung bei den Tech-Konzernen ist erforderlich. Und es ist ein Riesenvorteil, dass es in Europa das notwendige Problembewusstsein gibt.

Mittlerweile konzentriert sich der Gerichtshof auf die Werte und die Identität der Union sowie die Grundrechte, gerade wird zum Beispiel ein Fall verhandelt, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland zu sein hat. […] In Europa spielt die Musik.

Welche Bedeutung messen Sie dem DSA und dem DMA bei, die gesetzlichen Versuche der Kommission, die Macht der Tech-Riesen zugunsten kleinerer Unternehmen zu beschneiden?
Es ist gut, dass ein Nachdenken eingesetzt hat. Unter Umständen müssen kleinere Unternehmen aber erst einmal nachweisen, dass sie genauso effizient sind wie große. Daraus können sich in bestimmten Konstellationen zu große Hürden für die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ergeben. Die Kommission sieht die Probleme und versucht, etwas dagegen zu unternehmen.

Sehen Sie die Gefahr, dass zu viel geballte Wirtschaftsmacht die Wurzeln für neue Formen von Faschismus liefert?
Diese Gefahr sehe ich noch nicht. Aber was mit Sorgen macht, ist der Zustand in den USA, die plötzlich kein zuverlässiger Weltpolizist mehr sind. Das ist neu und besorgniserregend. Um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Vieles hängt von einzelnen Wirtschaftsführern und Staatenlenkern ab. Das Böse lässt sich wohl kaum aus der Welt verbannen. Vielleicht könnten mehr Frauen in entscheidenden Positionen für eine gewisse Abhilfe sorgen. Studien belegen, dass aggressiver Narzissmus bei Frauen seltener vorkommt als bei Männern. Auch scheint ihr Revierdenken weniger ausgeprägt. Vielleicht ist der Prozentsatz von Frauen, die ähnlich gefährlich agieren würden wie Russlands Diktator Wladimir Putin, geringer.

Gilt das auch fürs Wettbewerbsrecht?
Frau Vestager ist natürlich eine gute Wettbewerbskommissarin. Es gibt aber auch gute Männer. Insofern braucht es im Wettbewerbsrecht nicht zwingend mehr Frauen.

Früher galt die EU als politisches Abklingbecken für gescheiterte Politiker und Politikerinnen. Inzwischen zieht es immer mehr politische Talente nach Brüssel. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Das ist einfach folgerichtig. In Europa wird inzwischen so gut wie alles entschieden. Als ich an den Gerichtshof kam, ging es noch mehr um Wirtschaftsfragen. Mittlerweile konzentriert sich der Gerichtshof auf die Werte und die Identität der Union sowie die Grundrechte, gerade wird zum Beispiel ein Fall verhandelt, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland zu sein hat. Aus Brüssel kommen unendlich viele Gesetze, ob Steuerrecht oder Energiewende. In Europa spielt die Musik.

Oder es wird über die deutsche Maut entschieden …
Ein schwieriges Thema. Wie Sie wissen, hat der Generalanwalt anders entschieden als der EuGH. Ich persönlich halte eine Maut für sinnvoll. Natürlich war es unvorsichtig, so viel Geld für ein Mautkontrollsystem auszugeben, ohne das Urteil des EuGH abzuwarten. Ich halte aber das abweichende Votum des Generalanwalts, das der deutschen Maut nicht entgegenstand, für durchaus plausibel.

Was halten Sie von einer Erweiterung der EU um Staaten wie die Ukraine oder die des Westbalkans?
Diese Frage müssen nicht Richter, sondern Politiker beantworten. Man sollte Staaten wie die Ukraine, Serbien oder Albanien nicht dem Einfluss Russlands überlassen. Den Menschen in diesen Ländern wäre damit jedenfalls nicht geholfen. Allerdings stellt sich die schon erwähnte Frage, ob bei der Aufnahme von immer mehr Staaten die gleiche Integrationstiefe und Homogenität nachhaltig aufrechterhalten werden kann.

Besitzt die EU mit Blick auf Staaten wie Bulgarien oder Rumänien nicht auch eine disziplinierende Wirkung?
So ist es. Diese Staaten mögen in Bezug auf die Werte der EU in einigen Bereichen vielleicht ein paar Jahre zurück sein. Aber selbst die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte noch 2017 gegen die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt. Soweit es um derartige „Rückstände“ geht, sollten sie einer EU-Mitgliedschaft nicht im Wege stehen.

Womit weitere Rechtskulturen den Weg in die EU finden würden …
Die Anzahl und die unterschiedliche Größe der Staaten und der Bevölkerung, die sie repräsentieren, ist ein Problem. Rechtskulturen, die nur für wenige Menschen stehen, muss meines Erachtens nicht das gleiche Gewicht eingeräumt werden wie solchen von sehr großen, bevölkerungsreichen Staaten. Ohne Strukturanpassung könnten hier bald zusätzlich je drei Richter aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Moldau, Montenegro, Serbien und der Ukraine sitzen. Eine solche Vergrößerung könnte zu weiteren Schwierigkeiten führen.


Kokott

Juliane Kokott ist seit 2003 Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Sie bereitet viele entscheidende Fälle maßgeblich vor – unter anderem gegen Tech-Konzerne wie Amazon.

Sie promovierte und habilitierte sich an der Universität Heidelberg. Zwischen 2000 und 2003 leitete Kokott das Institut für Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität St. Gallen. Dort ist sie nach wie vor Titularprofessorin.

Juliane Kokott ist verheiratet und hat sechs Kinder.

 


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