Herr Lindner, wie stark hat der Ukraine-Krieg die EU bereits jetzt verändert?

Diejenigen, die behauptet haben, die EU sei außenpolitisch dysfunktional oder würde nicht mehr funktionieren, sind Lügen gestraft worden. Die Tatsache, dass die EU in der Lage war, so schnell, so hart und so einig zu reagieren, hat selbst Herrn Putin am Ende des Tages überrascht.

Welche Fehler hat die EU im Umgang mit Russland gemacht?

Ich weiß gar nicht, ob es ein spezieller Fehler der EU war. Es gab von einzelnen Mitgliedstaaten eine Fehleinschätzung über Putins Absichten. Ob die EU als Institution einer Fehleinschätzung aufgesessen ist, würde ich bezweifeln. Aber natürlich haben sich viele nicht vorstellen können, dass Putin tatsächlich bereit ist, das zu tun, was er jetzt tut.

Wie steht die Bundesregierung zu einem Importstopp für russisches Öl und Gas? Sollten Putin so schnell wie möglich alle wirtschaftlichen Lebensadern zerschnitten werden? Auch durch das Schließen der letzten Swift-Lücken?

Uns war von Anfang an klar, dass wir nur solche Sanktionen in Kraft setzen, die auch glaubwürdig sind, das heißt, die wir auch dauerhaft durchhalten können. Vor dem Hintergrund schauen wir uns auch Sanktionspakete im Bereich von Rohstoffen bei Kohle, Gas und Öl an, weil wir leider davon ausgehen müssen, dass dieser dramatische Einschnitt nicht in wenigen Monaten beendet sein wird. Wir sollten uns darauf einstellen, dass die Sanktionen, die jetzt in Kraft sind, eine Zeit lang bleiben und auch weiter ausgebaut werden. So hat die EU erst am 15. März ein viertes Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet.

Die Rede ist von einer Milliarde Euro täglich, die Putin durch die zögerliche Haltung Deutschlands in die Kriegskasse gespült werden. Muss nicht auch Nordstream 1 geschlossen werden?

Wir haben bereits jetzt Sanktionen in Kraft gesetzt, die Russland massiv treffen. Und ich wäre sehr dafür, bevor wir über die jetzigen Sanktionen hinausgehen, die Wirkung der gerade in Gang gesetzten Sanktionen zunächst zu evaluieren.

Und Swift?

Swift pauschal auf alle Banken anzuwenden, würde einen Mechanismus auslösen, der an einigen Stellen zu weit geht, denn er entkoppelt auch die einfachen Bürgerinnen und Bürger, die Menschenrechtsorganisationen und die NGOs. Er ist letztlich nur ein Überweisungsmechanismus. Ich würde die Swift-Maßnahme nicht überbewerten. Dennoch behält sich die EU vor, weitere Banken, Personen oder Firmen zu sanktionieren.

Wie wirken nach bisherigen Erkenntnissen der Bundesregierung die bislang verhängten Sanktionen?

Wir haben interne Prognosen, wie sich die Sanktionen auf das russische BIP auswirken. Ich bitte aber um Nachsicht, dass ich diese interne Zahl zurzeit nicht nennen kann. Seien Sie aber gewiss: Schon die jetzigen Sanktionen tun der russischen Wirtschaft massiv weh. Wir sehen das am Kursverfall des Rubels an den internationalen Devisenmärkten oder an den Ratings der russischen Staatsanleihen. Das trifft die russischen Refinanzierungsmöglichkeiten und die russische Wirtschaft bereits jetzt gewaltig.

Reichen diese Auswirkungen, um die Stimmung innerhalb der russischen Bevölkerung gegen den Ukraine-Krieg kippen zu lassen?

Wir sehen, mit welch harter Hand die russische Regierung und der russische Sicherheitsapparat gegen mutige Demonstrierende vorgehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Putin Russland seit zwei Jahrzehnten in eine Diktatur umkrempelt. Die Sanktionen sollen deshalb vor allem den russischen Staat, den Kreml, das System um Putin treffen. Und das tun sie.

In Polen kommen zurzeit täglich 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine an. Wie will die EU diesen Menschen helfen?

Polen leistet Gewaltiges. Stand heute haben bereits mehr als zweieinhalb Millionen Menschen die Ukraine verlassen, von den Binnenflüchtlingen ganz zu schweigen. Wichtig ist jetzt die innereuropäische Solidarität. Wir dürfen die Nachbarländer der Ukraine nicht allein lassen. Deutschland leistet im Bereich des Katastrophenschutzes unmittelbare Unterstützung vor Ort und nimmt viele Geflüchtete auf.

Bietet der Ukraine-Krieg die Chance, das Verhältnis Brüssels zu den osteuropäischen Mitgliedstaaten neu zu justieren?

Ich bin davon überzeugt, dass die Krise die Europäer in Brüssel enger zusammengeschweißt hat. Man hat erkannt, dass die Frage der Sanktionen keine wirtschaftspolitische, sondern eine zutiefst sicherheitspolitische Frage ist. Natürlich ist für die militärische Sicherheit die Nato zuständig, aber wirtschaftliche Sanktionen können eben nur im Rahmen der EU beschlossen werden.

Hat Westeuropa die Befindlichkeiten und Warnungen der Osteuropäer zu lange ignoriert?

Ich würde nicht sagen, dass die Warnungen ignoriert wurden. Gerade wir Deutschen sind seit Jahren in Litauen und damit im Baltikum militärisch präsent. Freundlich formuliert: Zu viele haben die Bedrohungsangst der Osteuropäer mit Blick auf Putin schlicht nicht nachvollziehen können. Dieser verengte Blick gilt aber nicht nur für Westeuropa.

Sollte die Ukraine in einem beschleunigten Verfahren Mitglied der EU werden?

Die Ukraine hat jetzt einen Beitrittsantrag gestellt. Dieser Antrag ist nun zu prüfen. Ein beschleunigter Beitritt der Ukraine würde den schrecklichen Krieg nicht um einen Tag verkürzen. Davon müssen wir leider zum jetzigen Zeitpunkt ausgehen.

Deutschland hat ein Rüstungspaket von 100 Milliarden Euro geschnürt und will den Anteil der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP erhöhen. Kommen die 100 Milliarden Euro on top?

Die 100 Milliarden Euro sind ein Sondervermögen. Mit dem Geld soll Großgerät wie das Kampfflugzeug F35 angeschafft werden – außerhalb des regulären Haushalts. Die 100 Milliarden Euro werden also on top sein. Zusätzlich wird der Verteidigungsetat weiterwachsen, aber im Rahmen der Entwicklung des Gesamthaushaltes. Die Bundeswehr muss vernünftig ausgestattet werden. Darüber sind sich alle einig. Wir müssen dafür Verbesserungen im Beschaffungswesen erreichen. Aber auch die Aktivitäten des Außenministeriums sind knallharte Sicherheitspolitik. Die 141 Ja-Stimmen für die Verurteilung Russlands vor der UNO-Generalversammlung waren harte Arbeit. Und auch die kostet Geld.

Hat Deutschland zu lange mit einem Aufstocken des Rüstungsetats gezögert?

Der Verteidigungsetat ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen, sicherlich unterhalb der vereinbarten Zwei-Prozent- Marke, aber doch spürbar. Die zwei Prozent hängen am Ende sehr von der deutschen Wirtschaftsleistung ab. Ich würde es aber durch- aus so formulieren: Es hat in den vergangenen Jahren einen Investitionsstau bei der Bundeswehr gegeben. Die Vorgängerregierungen haben viele Entscheidungen zu lange hinausgezögert.

Fürchten Sie eher eine neue Blockbildung in der Weltpolitik oder eine Regionalisierung von Konflikten mit Stellvertreterkriegen?

Ich finde, der Begriff Blockbildung passt nicht. Allein wenn wir die Abstimmung in der UNO-Vollversammlung vom 1. März an- schauen, ist das Ergebnis 141 zu 35 zu vier. Das ist eine klare Mehrheit gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Wir reden über die internationale, regelbasierte Ordnung, zu der sich ja auch mal Russland bekannt hat. Zugegeben: Diese Regeln hat Russland über Bord geworfen.

Ist eine werteorientierte Außenpolitik überhaupt noch möglich? Brauchen diese Werte Wehrhaftigkeit, sprich Militär?

Ja, davon bin ich nach wie vor fest überzeugt. Das ist kein Larifari. Was wir momentan tun, erfolgt auf Basis von Werten. Auf dieser Basis können auch harte Entscheidungen getroffen werden. Und damit meine ich durchaus harte militärische Entscheidungen. Die Tatsache, dass wir an die Ukraine Waffen liefern, ist eine Werteentscheidung. Diese Werte sind kein Menu á la carte. Deutschland hatte bislang immer abgelehnt, Waffen in Krisengebiete zu liefern. Aber wir erleben eine Zeitenwende. Die Lage hat sich verändert. Also müssen wir robust reagieren und wehrhaft sein. Das basiert auf Artikel 51 der UN-Grundrechtecharta und damit auf dem Recht der Selbstverteidigung eines jeden angegriffenen, souveränen Staates. Im Ergebnis heißt das auch das Liefern letaler Waffen.

Wie groß schätzen Sie die Gefahr des Nato-Bündnisfalles ein?

Wir erkennen momentan keine Bedrohung des Nato-Bündnisgebietes durch Russland. Sollte sich dies ändern und eine Bedrohung entstehen, haben sich alle, insbesondere die US-amerikanische Administration, klar zu Artikel 5 bekannt. Wir werden jeden Zentimeter des Nato-Territoriums gemeinsam verteidigen. Und das weiß auch Moskau. Der Kreml ist sicherlich überrascht von der Geschwindigkeit und der Härte der Sanktionen. In Russland hatte man eher mit nachlässigen Reaktionen wie denen nach der Krim-Okkupation 2014 gerechnet.

Im Juni wollen die G7 über die Neuausrichtung der Klimapolitik beraten. Inwieweit ist Klimapolitik inzwischen auch Sicherheits- und Außenpolitik?

Allein die Tatsache, dass wir im Außenamt eine Sonderbeauftragte für Klimapolitik und die Wirtschaftsabteilung entsprechend umstrukturiert haben, zeigt die Dimension. Der Krieg in der Ukraine hat einigen, die Klima- und Energiepolitik in der Vergangenheit ignoriert haben, schmerzhaft vor Augen geführt, dass Energiepolitik eben auch Sicherheitspolitik ist.

Der Grünen-Politiker Tobias Lindner, Jahrgang 1982, ist seit 2011 Mitglied des Deutschen Bundestages und hat sich in verschiedenen Ausschüssen intensiv mit Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik befasst. Zwischen 2017 und 2021 war Lindner Sprecher für Sicherheitspolitik und Obmann der Grünen-Bundestagsfraktion im Verteidigungsausschuss. Er gehörte mehreren Untersuchungsausschüssen an, darunter dem zur Aufklärung der sogenannten Berateraffäre im Verteidigungsministerium. Der promovierte Volkswirt ist Mitglied der überparteilichen Europa-Union Deutschland. Seit Dezember 2021 ist Lindner Staatminister im Auswärtigen Amt unter Außenministerin Annalena Baerbock.


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