Herr Stark, eine hohe Inflation belastet Wirtschaft und Privathaushalte.Wie beurteilen Sie die Geldpolitik der EZB?

Die EZB verfügt über eine gewaltige Expertise, um die Preisentwicklung im wirtschaftlichen Zusammenhang zu analysieren. Da ist es überraschend, dass sie erst sehr spät erkannt hat, dass sich eine Preisdynamik aufbaut, der man entgegenwirken muss. Das war spätestens im Spätsommer 2021 klar. Bereits damals war ein Inflationsdruck zu erkennen, der nicht mehr allein auf hohe Energiepreise zurückzuführen war. Das hat sich weiter verstärkt. Inflationsdynamik und Hartnäckigkeit stetig hoher Preise wurden unterschätzt.

Seit Juli vergangenen Jahres wurden die Zinsen angehoben.
Der Einlagenzinssatz stieg von – 0,5 auf 3,5 Prozent. Das ist sehr viel. Dies hat man auch zum Teil in großen Schritten getan. Damit wurde die eigene Zusage konterkariert, die Zinsen würden bis weit in 2024 hinein niedrig bleiben. Aber dieses Versprechen musste man brechen. Das gilt für praktisch alle westlichen Zentralbanken. Gleichzeitig hat die EZB entschieden, dass sie ihre Anleihen-Ankaufprogramme völlig einstellt, ein zusätzlicher Faktor, der die Inflation eindämmen soll. Doch das wird kurzfristig nicht gelingen. Zwar sehen wir aufgrund sinkender Energiepreise und des Basiseffektes nach mehr als einem Jahr Ukraine-Krieg und dem daraus resultierenden Preisschock einen Rückgang der Inflation, aber die Kerninflationsrate ohne Berücksichtigung von Energie und Nahrungsmittel bleibt sehr hoch und volatil. Es wird noch lange dauern, ehe man sich wieder einer Inflationsrate von 2 Prozent annähert.

Warum hat die EZB so spät reagiert?
Man hat wohl zu lange blind den makroökonomischen Modellendes Stabes vertraut und ausgeblendet, dass diese Modelle insbesondere in Krisenzeiten höchst unsichere Ergebnisse liefern. Auf Basis einer historisch niedrigen Inflation und der Gefahr von Deflation sahen die Projektionen der EZB fälschlicherweise ein Zurücklaufen der Inflation innerhalb von 3 Jahren voraus. Man hat zu lange auf diese Projektionen gesetzt, anstatt eine umfassende Datenanalyse vorzunehmen. Das führte zu einer falschen Diagnose.

Und Griechenland oder Italien?
Die Rücksichtnahme auf hochverschuldete Länder des Euroraums einschließlich Frankreichs ist ein Problem. Mit einer deutlichen Zinswende erhöhen sich die Finanzierungs- und Refinanzierungskosten dieser Länder. Damit stellt sich die Frage, inwieweit dort die öffentliche Verschuldung noch tragfähig ist. Genau dieses Problem hatte die EZB im Blick, als sie zeitgleich mit der ersten Zinserhöhung im Juli 2022 ein neues Instrument geschaffen hat, das Transmission Protection Instrument (TPI). Das ist eine erneute Selbstermächtigung des EZB-Rats, in den Markt eingreifen zu können, um die staatlichen Refinanzierungskosten zu begrenzen. Die Aktivierung des Instruments ist formal zwar an Bedingungen geknüpft, die jedoch ohne Substanz sind.

„Ich sehe noch für zwei bis drei Jahre eine deutlich höhere Inflationsrate.“

Warum wird die Inflation noch lange hoch bleiben?
Die Energiepreise können angesichts anhaltender geopolitischer Spannungen jederzeit wieder nach oben ausschlagen. Das hätte Auswirkungen auf viele andere Wirtschaftsbereiche. Hinzu kommt, dass Unternehmen als Folge der Corona-Pandemie dazu übergehen, Lieferketten zu verkürzen. Teile der Produktion werden aus Billiglohnländern zurückgeholt. Ich will nicht von Deglobalisierung sprechen, eher von einer neuen Art der Globalisierung. Das wird ebenfalls zu höheren Preisen führen. In Deutschland kommt noch der Fachkräftemangel hinzu. Wenn wir mehr Produktion zurückholen, heißt das: höhere Löhne und höhere Produktionskosten, die am Ende zu höherer Inflation führen. Letztlich spielt auch die Demografie eine Rolle. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen jetzt in den Ruhestand und heizen in bestimmten Bereichen die Nachfrage an. Auch das ist ein Faktor, der die Inflation hochhalten dürfte.

Wann wird die Inflation wieder um die 2 Prozent liegen?
Ich wage keine Prognose. Nur so viel: Ich sehe noch für zwei bis drei Jahre eine deutlich höhere Inflationsrate.

Und Hyperinflation?
Ein Vergleich mit 1923 ist unzulässig. Wer Parallelen konstruiert, argumentiert nicht seriös. Außerdem haben wir heute unabhängige Zentralbanken, die allerdings spät reagierten. Das Problem der EZB war die Kommunikation und das Vorzeichnen des Zinspfades.

Welche Vorteile bringt die Inflation mit sich?
Zunächst zu den Nachteilen: Gesamtwirtschaftlich gesehen hat eine hohe Inflation einen völlig verzerrenden Effekt. Sie führt unter anderem zu Zurückhaltung bei Investitionen oder wegen falscher Preissignale zu Fehlinvestitionen. Hohe Preise treffen die Ärmsten in der Gesellschaft: diejenigen mit begrenztem Budget. Durch die shock inflation haben sich die Schuldenstände hochverschuldeter Länder zurückentwickelt – trotz milliardenschwerer Ausgabenprogramme. Die Inflationsgewinner sind also die Schuldner.

„Wenn etwas schiefläuft, haben wir es mit globalen Erschütterungen im Banksystem zu tun.“

Werden Hausbesitzer ihre Immobilien verkaufen müssen?
Höhere Zinsen treffen viele Investoren. Investitionen, die in der langen Phase von Null- oder Negativzinsen getätigt wurden, können sich in dem neuen Umfeld als Fehlinvestitionen erweisen. Zudem hat der Insolvenzschutz während der Pandemie viele Firmenpleiten nur hinausgezögert. Das Problem der zunehmenden Zahl von Zombie-Unternehmen, die ihre Schulden nur noch aufgrund von Nullzinsen bedienen konnten, wurde bereits vor Corona ignoriert.

Ein Tsunami an Pleiten könnte auch Banken in Schieflage bringen. Gibt es Gefahren für den europäischen Bankensektor?
Ob es wirklich ein Tsunami wird, bleibt abzuwarten. Auch sind die bisherigen Bankenprobleme außerhalb Euro-Europas durchaus erklärbar. Zwar sind die Finanzsysteme weltweit sehr eng miteinander verflochten. Aber es gibt Unterschiede zwischen den USA und Euro-Europa. Mit der Silicon Valley Bank und der Republic Bank sind in den USA eher mittlere Banken ohne großen Liquiditätspuffer von Insolvenz betroffen. In den USA folgen nur die größten Finanzinstitute dem Baseler Akkord. In der EU wurde Basel konsequent umgesetzt. Ob die Aufsicht immer konsequent genug ist, wurde jüngst vom Europäischen Rechnungshof zur Diskussion gestellt.

„Umwelt, Greening, Genderfragen: Die gehören nicht zu den Kernaufgaben einer Zentralbank. Das Kernmandat der EZB ist klar im Maastricht-Vertrag verankert. Es geht um Preisstabilität.“

Hat Europa seine Hausaufgaben seit 2008 erledigt?
In Euro-Europa, ja. Anders sieht es in der Schweiz aus. Da wurde durch die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS eine gigantische Bank geschaffen. Deren Bilanzsumme ist nun mehr als doppelt so groß wie die jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz. Wenn jetzt etwas schiefläuft, haben wir es mit globalen Erschütterungen im Bankensystem zu tun. Ich kann nicht abschätzen, ob die Übernahme der Crédit Suisse den Fall wirklich nachhaltig löst. Immerhin musste die Schweizer Nationalbank 100 Milliarden Franken an zusätzlicher Liquidität bereitstellen, und die Schweizer Regierung hat außerdem Sicherungsmaßnahmen getroffen. Das ist gigantisch. Ich weiß nicht, ob das wirklich tragfähig ist und die Zeit reicht, um diestrukturellen und Management-Probleme in den Griff zu bekommen. Die Lage ist vorerst beruhigt. Aber das kann trügerisch sein.

Zentralbanken sollen für Preisstabilität sorgen – jetzt auch für grüne, nachhaltigkeitsorientierte Geldpolitik?
Ich kann es kurz machen: nein. Gerade in inflationären Zeiten muss das Ziel darin bestehen, jeden weiteren Ballast abzuwerfen, der das Erfüllen des eigentlichen Mandats erschweren könnte. Umwelt, Greening, Genderfragen: Die gehören nicht zu den Kernaufgaben einer Zentralbank. Das Kernmandat der EZB ist klar im Maastricht-Vertrag verankert. Es geht um Preisstabilität. Indem diese eine Zentralbank sichert, leistet sie auch ihren Beitrag zu den sekundären Zielen. Konkret: Die EZB sollte nicht aus Klimaschutzgründen „grüne“ Unternehmensanleihen kaufen, wenn das geldpolitisch nicht geboten ist. Vielmehr ist Preisstabilität eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Klimapolitik. So wird ein Schuh daraus. Das hat auch Bundesbankpräsident Joachim Nagel kürzlich betont.

„Man bräuchte ein politisch unabhängiges Gremium, das die öffentlichen Finanzen im Euroraum überwacht und gegebenenfalls Korrekturen einfordert.“

Der Stabilitätspakt soll in der EU für finanzpolitische Stabilitätsorgen. Wird er dieser Aufgabe noch gerecht?
Der Stabilitätspakt ist faktisch tot. Seit 2020 ist er mit dem Beginn der Corona-Pandemie ausgesetzt. Er wird in seiner früheren Form auch nicht wiederkommen, egal was diskutiert und letztlich vorgeschlagen wird. Zum Teil finde ich das sogar gut. Es wird Sie vielleicht überraschen, das von jemandem zu hören, der maßgeblich an der Ausarbeitung der ursprünglichen Form beteiligt war. Wir starteten 1998 mit einfachen Regeln, die zunehmend detaillierter und komplizierter wurden, auch weil die Zahl der Ausnahmen stetig wuchs. Zudem gab es zunehmend politische Durchsetzungshemmnisse.

Wie sollte ein neuer Pakt aussehen?
Haushaltsregeln müssen einfach, transparent und umsetzbar sein. Sie müssen auch von den normalen Menschen auf der Straße nachvollzogen werden können. Nur dann sind sie auch durchsetzbar. Das Dilemma besteht darin, dass in den Haushaltsverfahren potenzielle Sünder über tatsächliche Sünder zu entscheiden haben und die EU-Kommission ihre Rolle als Hüterin der Verträge immer weniger wahrnimmt. Man bräuchte ein politisch unabhängiges Gremium, das die öffentlichen Finanzen im Euroraum überwacht und gegebenenfalls Korrekturen einfordert. Es gibt mittlerweile auch im akademischen Bereich viele, die in diese Richtung denken. Ich selbst plädiere seit über einem Jahrzehnt für ein „European Budget Office“ mit der gerade beschriebenen Funktion.

„Ohne einheitliche Regeln ist die Währungsunion zum Scheitern verurteilt.“

Ist das mehrheitsfähig?
Viele Euro-Mitglieder wollen ja gar keine Regeln mehr. Angesichts der immensen politischen Aufgaben wie die grüne und digitale Transformation und höhere Verteidigungsausgaben werden Haushaltsregeln als störend empfunden. Wozu das führt, hat jüngst Frankreich mit einem downgrading durch eine Rating-Agentur erfahren.Im Trend werden die Refinanzierungskosten steigen. In den letzten Jahren hatte sich gezeigt, dass man Schulden weiter anhäufen kann, ohne dass es am Markt „ernst“ wird. Das war nur unter fiskalischer Dominanz möglich. Das Eurosystem kaufte 2021 und 2022 volumenmäßig die gesamten Neuemissionen der Eurostaaten auf. Ohne einheitliche Regeln ist die Währungsunion zum Scheitern verurteilt.

Wird der Dollar die internationale Leitwährung bleiben?
Darüber wird seit Jahrzehnten geredet. Aber immer noch werden etwa 60 Prozent der Weltwährungsreserven in US-Dollar gehalten, und der Dollar ist nach wie vor mit einem Anteil von über 40 Prozent global die wichtigste Fakturierungswährung. Um eine Welt-Reservewährung zu schaffen, die ja vom Markt akzeptiert werden muss, benötigt es einen tiefen und breiten Markt. Den gibt es in Ländern wie China oder Indien nicht. Deren Finanzsysteme sind noch zu wenig entwickelt, um daraus eine neue Reservewährung entstehen zu lassen. Diesen Anspruch zu erheben, ist mutig. Aber die Realität sieht noch anders aus.

Exklusiv-Interview mit Jürgen Starkm ehemaliger Chefvolkswirt der EZB. Der Chefökonom der Europäischen Zentralbank Dr. Jürgen Stark setzt vehement für die Stabilität des Euros in der Schuldenkrise ein. Ende 2011 verlässt er die EZB als Protestsignal gegen die Finanzpolitik der EU-Staaten in der Eurokrise.

Als Kurator der Stiftung Ordnungspolitik steht er in einer besonderen Beziehung zum Centrum für Europäische Politik (cep).

 

Entdecken Sie den Artikel von Matthias Kullas, cep-Experte für Verbraucher- und Finanzthemen, über Kroatiens Aufnahme in die Eurofamilie.


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