Als Französin betrachte ich die Industriepolitik als eine Entwicklungsstrategie für bestimmte Wirtschaftssektoren, die eine öffentliche Intervention erfordern. Du hast eine Studie zum Thema Industriepolitik in Europa geschrieben. Wie würdest du diesen Begriff definieren?
Aus meiner Sicht bezeichnet klassische Industriepolitik in der Ökonomie im Wesentlichen eine sektororientierte Entwicklungspolitik. Dabei fördert der Staat bewusst bestimmte Branchen und Industriesektoren in ihrem Wachstum. Dies kann entweder durch direkte finanzielle Investitionen, durch sonstige finanzielle Anreize oder auch durch Schaffung von Steuererleichterungen erfolgen. Auch Investitionen in Weiterbildungsmaßnahmen oder staatliche Ausbildung, die spezifisch den Bedürfnissen eines Sektors entsprechen, sind ein wichtiger Bestandteil der Industriepolitik.
In Deutschland hat die Industriepolitik eine andere Rolle als in Frankreich. Jeder Mitgliedstaat der EU scheint hier seine eigene Strategie zu verfolgen, aber welche Rolle spielt dann die EU darin?
Ja, da stimme ich absolut zu. Zunächst einmal gibt es keine einheitliche Strategie zwischen den Mitgliedsstaaten, aber das ist meiner Ansicht nach auch nicht erforderlich. Die Industriepolitik ist nicht zentralisiert in der EU. Dennoch ist die EU ist von enormer Bedeutung, da sie über ein steigendes Volumen an EU-weiten Fonds verfügt, die Unternehmen unterstützen können. Insbesondere seit der Einführung des Green Deals hat die Bedeutung der EU als industriepolitischer Akteur weiter zugenommen. Der Green Deal sieht eine Vielzahl neuer EU-weiter Programme vor, die gezielt die industrielle Entwicklung im Hinblick auf die grüne Transformation fördern sollen. Aber es bleibt nach wie vor so, dass es eigentlich ein Zusammenspiel zwischen den Entscheidungen auf Ebene der Mitgliedstaaten ist.
Das heißt also, die europäische Union spielt dann eine Koordinierungs- und Unterstützerrolle.
Ja, und präziser ausgedrückt lässt sich sagen, dass es zwei Einflussmöglichkeiten gibt. Zum einen kann die EU mithilfe der zentralen Verwaltung der Fonds entscheiden, in welchem Umfang sie Unternehmen in bestimmten Sektoren und Ländern unterstützen möchte. Zum setzt sie die Guidelines, die für die Mitgliedsstaaten bei der Gewährung von Beihilfen an ihre nationalen Unternehmen gelten. Wir haben ja einen Binnenmarkt in der EU, und dieser Binnenmarkt setzt voraus, dass auch ein fairer Wettbewerb herrscht. Das setzt voraus, dass finanzstarke Mitgliedstaaten ihre nationalen Industrien nicht in übertriebenem Maße subventionieren. Denn sonst würde Produktion künstlich verbilligt und eine an Effizienzgesichtspunkten ausgerichtete Arbeitsteilung in der EU behindert. Aus diesem Grund hat die EU seit langen relativ strengen Richtlinien für staatliche Beihilfen, die die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, ihren Unternehmen Unterstützung zu gewähren, klar begrenzen. Je nachdem, wie streng oder locker die Europäische Kommission diese Richtlinien auslegt, kann sie den Spielraum der Mitgliedstaaten beeinflussen, um Industriepolitik für ihre Unternehmen zu betreiben.
Die EU bemüht sich um die Förderung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit und versucht gleichzeitig, eine gewisse Autonomie und Unabhängigkeit von China und den USA zu entwickeln. Was führt zu dieser Situation? Welche Sektoren sind betroffen?
Ja, das ist in der Tat interessant. Die Industriepolitik steht seit vielen Jahren im Mittelpunkt politischer Diskussionen in Europa. Jedoch ist die Idee einer europäischen Autonomie und Souveränität vergleichsweise neu. Es ist eigentlich keine neue Erkenntnis, aber durch die wirtschaftspolitische Debatte der letzten Jahre wurde deutlich, dass wir in einigen Bereichen stark von Ländern wie China abhängig sind, was kritische Rohstoffe und Technologien betrifft. Auch wenn wir an die globale Verteilung von Patentaktivitäten denken, bestehen zahlreiche externe Abhängigkeiten. In der Tat hat dies in letzter Zeit dazu geführt, dass das Ziel einer stärkeren Autonomie oder Souveränität zunehmend als eigenständiges Ziel betrachtet und auch als neue Begründung für Industriepolitik herangezogen wird.
Der Wunsch der EU, eine Art Autonomie und Souveränität zurückzugewinnen hat sich dann in letzter Zeit mit der COVID-Pandemie und dem Ukraine-Krieg verstärkt. Ist dieses Ziel erreichbar? Und wenn ja, wie?
Während der COVID-Pandemie entstand durch die sichtbar gewordene Abhängigkeit bei bestimmten medizinischen Produkten wie Masken eine neue Art von Debatte. Und mit dem Ukraine-Krieg ist offensichtlich geworden, dass auch unsere Abhängigkeiten im fossilen Bereich fatale Auswirkungen haben können. Es macht Sinn, darüber nachzudenken und Strategien zu entwickeln, um unsere Autonomie zu stärken. Allerdings könnte dies langfristig im Konflikt mit anderen grundlegenden politischen Prinzipien stehen, insbesondere dem Prinzip des Freihandels. Die freie Handelspolitik ist ein traditionelles Merkmal der EU, das auch international Anerkennung findet. Und dabei können in Zukunft schon Reibungspunkte entstehen, je nachdem, mit welchen Maßnahmen man das Ziel der Autonomie durchsetzen will. Wenn es etwa darum geht, unsere Lieferketten von China abzukoppeln, interne Kanäle der Rohstoffversorgung aufzubauen, dann besteht die Gefahr, dass Länder wie China ihrerseits mit mehr Protektionismus reagieren. Das wäre konträr zum Ziel der EU, einen fairen und freien Welthandel zu etablieren.
Wie lässt sich strategische Autonomie mit dem europäischen Green Deal vereinbaren, der die Abhängigkeit von kritischen Rohstoffen erhöhen könnte?
Unser Bedarf an kritischen Mineralien wird in Zukunft deutlich steigen. Wenn wir an Lithium und Kobalt für Batterien oder Seltenerdmetalle für Permanentmagnete denken, sagen alle Prognosen voraus, dass die Nachfrage in Europa in den kommenden Jahren exponentiell ansteigen wird. Das liegt daran, dass es mittlerweile ziemlich klar ist, welche Technologien die grünen Märkte dominieren werden. Ohne Lithium gibt es keine Batterien und ohne seltene Dauermagnete gibt es ebenfalls keine Batterien. Insbesondere bei Rohstoffen aus China ist bekannt, dass die Umweltstandards dort deutlich niedriger sind als in der EU. Das bedeutet, wenn wir im Rahmen einer Autonomiestrategie einen Teil der Lieferkette zurück in die EU mit ihren strengen Umweltstandards verlagern, kann dies durchaus zu den übergeordneten Zielen der Nachhaltigkeit und des Green Deal beitragen.
Aber kann diese Industriepolitik die Antwort auf die Klimakrise sein?
Wenn es darum geht, klimafreundliche Produktion in der EU zu halten, etwa Produktion von grünem Stahl, dann ist das ein industriepolitisches Ziel, dass mit den klimapolitischen Ambitionen kongruent geht. Die Frage ist nur, zu welchen Kosten dies geschieht. Der Umstieg auf emissionsarme Produktionsweisen ist zunächst mal teurer. Die Unternehmen müssen investieren in neue Maschinen, in neue Fabriken, sie müssen auf erneuerbare Energieträger umstellen, die erstmal auch teurer sind als konventionelle fossile Lösungen. Es ist deshalb klar, dass eine Förderpolitik in diesem Bereich uns gesellschaftlich etwas kostet. Diese Kosten belasten die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Produktion auf den Weltmärkten, und sie belasten auch die Kaufkraft unserer heimischen Verbraucher. Das heißt, wir müssen sie klug verteilen, um sicherzustellen, dass die Produktion auch unter den Wettbewerbsbedingungen auf den globalen Märkten in Europa gehalten werden kann.
In der Europäischen Union brauchen wir Erneuerung, eine neue Dynamik. Du hast in deiner Studie von Transformationspolitik gesprochen. Was meinst Du damit genau?
Wir haben den Begriff „Transformationspolitik“ gewählt, um von der klassischen Unterscheidung zwischen Industriepolitik und Ordnungspolitik wegzukommen. Im Gegensatz zu Frankreich, das oft mit Industriepolitik in Verbindung gebracht wird, hat Deutschland in der Vergangenheit die meiste Zeit eher einen ordnungspolitischen Ansatz verfolgt. Wir glauben, dass eine erfolgreiche Transformation weder das eine noch das andere erfordert, sondern einen neuen Ansatz, der die Vorteile beider Ansätze nutzt, ohne ihre Nachteile zu teilen. Transformationspolitik zielt darauf ab, die Transformation bewusst zu steuern, insbesondere die Umstellung auf grüne, emissionsarme Produktionsweisen in der Industrie. Ein Beispiel hierfür ist die staatliche Garantie eines festen CO2-Preises für Transformationsprojekte, um die Kostenunterschiede zwischen fossilen und emissionsarmen Produktionsweisen auszugleichen. Dies würde einen gewissen Ausgleich schaffen und Investitionssicherheit bieten, ohne Risiken komplett zu kollektivieren und Anreize zu Effizienzverbesserungen zu unterminieren.
Wichtig ist auch der Umgang mit technologischer Unsicherheit, insbesondere bei neuen emissionsarmen Technologien. Hier kann die Transformationspolitik Forschung und Entwicklung finanziell fördern und gleichzeitig eine gewisse Technologieoffenheit gewährleisten. Dadurch können Unternehmen zwischen verschiedenen Technologien wählen, die vergleichbare Emissionswirkungen haben, aber auf unterschiedliche Weise zu Emissionsminderungen führen.Die Kombination solcher Maßnahmen ist aus unserer Sicht der beste Weg, um die Transformation zur Erreichung der Klimaziele voranzutreiben und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und damit Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Europa zu sichern.
Zusammenfassend: Wie sieht die perfekte Transformationspolitik für die Industrie aus?
Aus meiner Sicht ist es eine Transformationspolitik, die EU-weit klare Oberziele definiert, zu denen alle konkreten Maßnahmen konsistent sein müssen. Damit meine ich vor allem, dass alle Maßnahmen den Klimazielen der EU dienen müssen und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der EU erhalten. Aber zugleich, glaube ich, brauchen wir auf der anderen Seite auch ausreichend Flexibilität, was die Umsetzung betrifft. Ich bin nicht der Meinung, dass alle Mitgliedsstaaten auf CO2-Verträge setzen müssten oder auf dieselbe Kombination an Politikinstrumenten. Da sollte es nach wie vor Spielraum geben, Flexibilität für die Mitgliedsstaaten, innerhalb des beihilferechtlichen Rahmens ihre Industrie und ihre spezifische Wirtschaftsstruktur so abzusichern, wie es ihren Interessen und ihrer Tradition entspricht. Zusammengefasst geht es also um ein Maximum an Einigkeit auf der Zielebene, und um ein Maximum an Flexibilität auf der Handlungsebene.
André Wolf is Head of Technology, Infrastructure and Industrial Development at the Centrum für Europäische Politik (cep) in Berlin. Before he joined the cep team, he was head of Research at the Department "Energy, Climate, Environment" and "Economy and Trade" at the Hamburg Institute of International Economics (HWWI). He finished his PhD in Economics at the Chair of International Economic Relations at the Christian-Albrechts-Universität in Kiel.
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