Theodor Adorno fragte einst „Wie viel Barbarei steckt in Fortschritt?“ Oder übertragen: Welche Gefahren lauern in der als Verheißung gepriesenen Digitalisierung, die unserer Epoche ihren Stempel aufdrückt?

Die Kommission will mit den „Grundsätzen für das digitale Zeitalter“ Leitplanken definieren und digitale Standards setzen. Ihr Ansinnen besitzt beinahe verfassungsmäßige Bedeutung, auch wenn es nicht in einer neuen Verfassung münden soll. Grundrechte existieren unabhängig von technologischen oder politischen Umständen. Aber ihr Schutz wird in einer digitalen, auf den massenhaften Austausch persönlicher Daten basierenden und damit immer gläserner werdenden Gesellschaft wichtiger denn je. Die digitalen Grundsätze sollen unter anderem den „universellen Zugang zum Internet“ und ein „sicheres und vertrauenswürdiges Online-Umfeld“ garantieren.

Das jedoch wird nicht reichen. Die Gefahren einer unzureichenden und verspäteten Regulierung sind deutlich größer. Denn längst hat die exponentielle Ausdehnung des Digitalen den Gesetzgeber unter Zugzwang gesetzt. Neue Technologien wie die Quantentechnologie stehen in den Startlöchern. Eine schützende, vorausschauende, universelle und robuste Regulierung ist notwendig, ja überfällig. Einfacher als heute war der Zugang zu Informationen für den Großteil der Menscheit noch nie. Zugleich fiel es noch nie schwerer, darin die Wahrheit zu erkennen. Das aber ist die Grundprämisse demokratischer, freier und pluralistischer Gesellschaften.

Im gegenwärtigen digitalisierten Zustand, der sich disruptiv, rasch und ungezügelt entwickelt hat, sind informationelle Selbstbestimmung, digitale Mündigkeit des Individuums und pluralistische Vielfalt der Gesellschaft gefährdet. Es dominieren oftmals die „wüsten Geräusche in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen“, wie es der Soziologe Jürgen Habermas formuliert. Die vielen Informationen und die einfachen mobilen Zugänge könnten der Beginn einer globalen Emanzipation von bislang unterdrückten, in ihrer Not unbemerkten Menschen sein – und damit eine Verheißung. Wohlgemerkt: könnten.

Denn die Zugänge sind genau das Problem. Diese werden zunehmend durch sogenannte Gatekeeper kontrolliert, die an Franz Kafkas Türhüter aus der Parabel „Vor dem Gesetz“ erinnern. Jeder hat seinen eigenen Zugang zu Daten und Informationen, seine fremdbestimmte Echokammer, die mit digitaler Freiheit und Mündigkeit nicht mehr viel gemein hat. Der Zugang wird uns aufgezwungen mit gefilterten Informationen und verborgenen Algorithmen. Dieser individualisierte Zugang ist tatsächlich das Tor zu Manipulation und Diskriminierung. Wir alle, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, werden bereits zielgerichtet beeinflusst, mehr oder weniger manipuliert und diskriminiert.

Machtverschiebung zugunsten der Tech-Konzerne

Das digitale Zeitalter ist gekennzeichnet von fundamentalen Machtverschiebungen. Die Staaten verlieren an Einfluss, Tech-Unternehmen gewinnen an exterritorialer, nicht demokratisch legitimierter Macht. Sie sind inzwischen so mächtig, dass sie virtuell längst wie ein gläserner Elefant mit an den Schalthebeln großer Staaten sitzen. Die „Machtergreifung“ läuft unsichtbar, aber unaufhaltsam ab, ebenso wie die pandemische Ausbreitung von Hass und Fake News. Die Gatekeeper dringen tief in unser Privatestes ein und beeinflussen unsere Entscheidungen. Informationen werden algorithmisch gleichgeschaltet, um sie zielgerichtet an Menschen zu liefern, die, vorhersagbar und gefügig gemacht, immer häufiger das tun, was von ihnen erwartet wird. Aus Daten werden Informationen, aus Informationen Emotionen. In autokratischen Gesellschaften wie China, Russland oder Nordkorea ist Staatsmacht längst Digitalmacht – und umgekehrt.

Es ist das Lebenselixier der Gatekeeper-Plattformen, ihre Macht durch immer neue Empörung, Angst und verbale Gewalt zu vergrößern, immer mehr Daten durch abhängig machende Algorithmen zu erzeugen und dadurch weitere Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen. Skalierung ist ihre Lebensraumideologie, die Daten ihr Werkzeug. Das zu Ende zu denken, ist eine intellektuelle und moralische Pflicht, denn darwinistische Weltherrschaftsfantasien (bis hin zu Metaverse-Dystopien) sind in manchen Äußerungen digitaler „Führer“ bereits unverkennbar.

Die wachsenden Datenmengen konzentrieren sich immer stärker in den Händen weniger. Ihre Macht wirkt harmlos, ja, beinahe nützlich, bis sie irgendwann auf eine Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit oder – wie zurzeit – auf eine durch eine Pandemie erschöpfte und gereizte Gesellschaft prallt, und schon materialisiert sie sich in noch mehr Hass, Intoleranz und Schuldzuweisungen. Abweichende Meinungen werden nicht mehr durch versöhnenden, demokratischen Konsens zusammengeführt, sondern systematisch an den Rändern aufeinandergehetzt. Gesellschaft spaltet sich, indem Menschen aufhören, sich zuzuhören, und nur noch Bestätigung suchen. Die Radikalisierung in Echokammern, von Algorithmen befeuert, vergrößert den Abstand zwischen den Menschen.

Schwindendes Vertrauen in Demokratie mündet in autoritäre Verführbarkeit durch ideologische Heilsversprechen. Aggressive Minderheitsmeinungen breiten sich in sozialen Medien aus. Welche Macht davon ausgehen kann, hat nicht zuletzt Donald Trump gezeigt, der die direkte Kommunikation mit seinen Anhänger:innen über die sozialen Medien in perfider Weise nutzte, um sie aufzuwiegeln und gezielt zu desinformieren. Wehret den Anfängen! Längst wird Demokratie zersetzt und ausgehöhlt – ob durch Trump, die hybride Kriegsführung des russischen Präsidenten Wladimir Putin oder Cambridge Analytica.

Schutz von Grundrechten kann digitaler Dystopie vorbeugen

Die totale Digitalität ist eine totalitäre Dystopie. Der Grat zwischen dem digitalen Zeitalter als einer Ära der Emanzipation und einer digitalen Diktatur ist schmal. Zugegeben: Die Analogien zwischen den Mechanismen einer Diktatur sind drastisch, aber sie sind hilfreich und notwendig, um zu erkennen, worum es letztlich geht: die Bewahrung der Demokratie und den Schutz der Freiheit. Europa besitzt die historischen Erfahrungen und die humanistischen Werte, um die digitale Dystopie abzuwenden. Das ist eine Ressource, die nicht hoch genug einzuschätzen ist. Die von Brüssel angekündigten „Grundsätze für das digitale Zeitalter“ nehmen die zentralen Fragen unserer Zeit auf: Wer hat im digitalen Raum die Macht? Wer definiert die Regeln? Vor allem aber: Wer überwacht sie? Die Gewaltenteilung, das Wesen der Demokratie, droht durch die digitalen Gatekeeper zu erodieren, wenn Legislative, Exekutive, Judikative und selbst die Kontrolle über die sogenannte vierte Gewalt, die Medien, und damit die Öffentlichkeit, in einer Hand liegen.

Der Schutz von Grundrechten steht nicht im Widerspruch zur Digitalisierung, er wäre auch kein Standortnachteil. Im Gegenteil: Gesellschaften werden mehr Nutzen aus Daten ziehen, wenn sie sicherstellen, dass Grundrechte geschützt und das Eigentum an Daten nicht monopolisiert wird. Die verschiedenen Rechtsakte der Kommission – vom Digital Markets Act bis zum Digital Services Act – sind gute Ansätze. Wir werden keine Digitalisierung ohne eine Infrastruktur an Plattformen haben. Wir brauchen sie, über sie findet der Austausch von Daten statt. Sie sichern auch in entlegenen Winkeln der Welt den Zugang zu Wissen. Deren Zerschlagung oder Entflechtung sind keine Lösungen.

Wenn die Kommission ihre „Grundsätze für das digitale Zeitalter“ vorstellt, geht es tatsächlich um nicht weniger als um die Verteidigung von Demokratie, Wettbewerb und Freiheit. Es wäre für Europa eine Chance, seine historischen Erfahrungen und ethischen Werte für einen eigenen Ansatz digitaler Souveränität zu nutzen, einen Europäischen Konvent für eine humane „Verfassung“ der Digitalität auszurufen, um das Versprechen von Würde und Freiheit des Einzelnen sowie den Schutz von Demokratie und Rechtsstaat zu erneuern. Dann würde aus Digitalisierung wirklich die verheißungsvolle Chance zur Emanzipation – und kein weiteres Instrument der Unterdrückung.

Hier finden Sie die Langfassung des Textes.


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Dieser Beitrag erschien am 26. Januar 2022 im Tagesspiegel Background.